Oft hört man in unseren Kreisen, wenn auf die Jahre und Monate direkt vor dem Ersten Weltkrieg verwiesen wird, das sprachliche Bild, man sei damals ’schlafwandlerisch in den Krieg‘ getaumelt. Kaum ein anderes Bild, bzw. eine andere Interpretation der Geschichte könnte falscher sein! General von Moltke verfasste im Februar 1914 eine Denkschrift, die in der These gipfelte, dass Russland in zwei Jahren, also im Jahre 1916, voll kriegsfähig sei. Von wegen schlafwandelnd in den Krieg! Es war eine bewusste Verabreichung von Gift. Reinhold Lütgemeier-Davin und Klaus Moegling vom 13.04.2025.
Als „Gift“ soll hier die These verstanden werden, dass in Europa in naher Zukunft unweigerlich ein Krieg entstünde; eine Prognose, die ähnlich einem Entwicklungsprozess unausweichlich, ohne eigene Absicht, ohne eigene Entscheidung und vor allem ohne Ausweg ihren Lauf nimmt. Die These ist verbunden mit der Behauptung, dass die nur winzige Chance auf Einflussnahme auf diesen Prozess damit vorhanden sei, dass man selbst den Kriegsbeginn vorverlegt und startet. Die Behauptung sagt, eine solche Vorverlegung sei das Maximum an Einfluss, das „uns“ bliebe.
Der Blick in die aktuelle Zeit lässt erschrecken. Ein ganzes Bündel von derzeitigen Prognosen verwenden die Denkfigur einer großen historischen Kraft, bzw. einer unabänderlichen Entwicklung zum Krieg, ganz ähnlich wie sie in den Jahren 1911 bis 1914 weit verbreitet war. BND-Chef Bruno Kahl nennt ein Datum der nahen Zukunft, das uns Angst machen soll: „Spätestens Ende dieses Jahrzehnts dürften russische Streitkräfte in der Lage sein, einen Angriff auf die NATO durchzuführen.“ (14.10.2024) – Prof. Dr. Sönke Neitzel: „Vielleicht ist dieser Sommer der letzte, den wir in Frieden erleben.“ (6.3.2025) – Nahe an der Metapher des Wachstumsprozesses bleibt Carsten Breuer, Generalinspekteur der Bundeswehr: „Wir sehen, dass [in Russland] jährlich um die 1500 Kampfpanzer entweder neu produziert oder aus Depots herausgeholt und instand gesetzt werden. […] Im Jahr 2029 wäre Russland damit zu einem großmaßstäblichen konventionellen Angriff auch auf NATO-Gebiet in der Lage.“ (12.4.2025) – Soweit zu erkennen ist, wurde (in neuerer Zeit) die These, ein Krieg stünde in sechs bis zehn Jahren an, zuerst von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik im November 2023 in die Welt gesetzt. Christian Mölling und Torben Schütz beschrieben damals die nahe Zukunft als „Wettlauf“, also als ein Setting, in dem „wir“ schneller sein oder eher starten müssen.
Alle vier Beispiele zeigen die Denkfigur eines quasi „in sich selbst begründeten“ Wachstums bzw. einer absichtslosen Entwicklung, ähnlich den Temperaturanomalien der Erde, die seit vielen Jahren nur eine Richtung kennen. Die zitierten Aussagen weisen damit eine hohe Ähnlichkeit mit der Denkschrift des Generals von Moltke auf. Damals wie heute verschiebt sich die Mentalität der Zivilgesellschaft langsam aber sicher in Richtung einer breit geteilten Erwartung, die Krieg als normal deklariert. Einziger Unterschied zwischen damals und heute ist, dass heute die Unausweichlichkeit des Krieges (noch?) nicht hinzugefügt wurde.